Wo die Architektur der Pädagogik folgt

Ein Bericht von Jacqueline Engelke

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IGS Kaufungen - Neubau von außen

Schwatzend verlassen Schüler und Schülerinnen das Gebäude, in dem sich die Klassenhäuser befinden. Einige wenden sich auf dem weitläufigen Schulgelände nach links, andere schwenken nach rechts. Dabei geht es erstaunlich ruhig zu. Eine Beobachtung, die viele Lehrkräfte und Schüler der Integrierten Gesamtschule (IGS) Kaufungen machten. Ruhiger und offener sei es geworden, seitdem im Neubau unterrichtet wird. Einem Neubau, der dem Konzept vom „Raum als drittem Pädagogen“ folgt. Doch nicht nur äußerlich veränderte sich die Schule. Sie durchlief und durchläuft auch intern einen Prozess hin zur ganztägig lernenden Schule mit offener Konzeption.


Seit März 2011 findet der Unterricht an der IGS Kaufungen in drei Klassenhäusern mit sechs Jahrgangseinheiten von Klasse 5 bis 10 statt. Im Spätherbst 2008 fiel die Entscheidung für den Neubau, weil das alte Hauptgebäude mit PCB belastet war und  abgerissen werden sollte. Diesen Beschluss nutzte die Schule, um die neuen Gebäude ihrem pädagogischen Konzept anzupassen – einem Konzept einer Teamschule, der Partizipation und der Transparenz.

Klassenhaus A links, Klassenhaus B/C rechts weist ein Schild am Eingang des Neubaus Besuchern den Weg. In der Eingangshalle empfängt ein angenehmer Geruch nach Überbackenem den Besucher.

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IGS Kaufungen - Neubau von innen - Eingang

Die Uhr zeigt 12 Uhr mittags. Eine Frau bereitet an einem kleinen Kiosk leckere Kleinigkeiten vor. Links führen Glastüren in das Klassenhaus A. Eine junge Lehrerin kommt aus einer Klasse und fragt die unbekannte Besucherin freundlich: „Kann ich Ihnen helfen?“ Die Gegenfrage nach dem Schulleiter beantwortet sie mit einer präzisen Erklärung des Weges zu dem Gebäude der  Schulverwaltung. Dann erzählt sie von ihrer eigenen Schulzeit an der IGS Kaufungen und schwärmt „von unserem schönen Neubau.“

In diesem Neubau ist alles Glas und Licht und Transparenz. Einladendes Holz, Tische in den Fluren, an einem sitzen zwei Jungen und arbeiten. Der Teamraum der Lehrkräfte ist offen einsehbar.

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IGS Kaufungen - Neubau von innen

Die Klassenräume wirken etwas geschlossener, doch immer noch sehr transparent. Die Schüler sitzen an Tischen, die sich je nach Bedarf verstellen lassen. Statt stationärer Tafeln kommen Schiebetafeln zum Einsatz, die sogar in andere Räume mitgenommen werden können.

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IGS Kaufungen - Neubau von innen - Klassenraum

Trotz aller Flexibilität und Offenheit strahlen die Räume Sicherheit, Geborgenheit und Struktur aus. Funktional und einladend zugleich.

Teamschule mit offener Konzeption

975 Schüler und Schülerinnen werden an der IGS Kaufungen von 75 Lehrkräften von der Klasse 5 bis zur Klasse 10 unterrichtet, zwei Sozialpädagogen stehen zusätzlich zur Verfügung. Die Gemeinde Kaufungen liegt in der Nähe der Stadt Kassel, die Bevölkerungsstruktur hat sich in den vergangenen Jahren verändert, hin zu mehr Alleinerziehenden, berufstätigen Ehepaaren und Umsiedlern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Von 2003, als der Beschluss für die Entwicklung zur Ganztagsschule fiel, bis heute kletterte die Zahl der Schüler um mehr als 200. Im Jahr 2008 fiel an der IGS dann die Grundsatzentscheidung, eine Teamschule mit offener Konzeption aufzubauen, erläutert Schulleiter Erhard Zammert.

Jüngster Baustein dieser Ganztagsentwicklung ist ein inhaltliches Konzept mit Profil- und Projektklassen. Als Profil sind Sport oder Naturwissenschaften möglich. In der Jahrgangsklasse mit dem Profil Sport werden beispielsweise sportliche Schwerpunkte gebildet, die Kinder erhalten zusätzliche Unterrichtszeit in diesem Schwerpunkt. Schüler der Projektklassen machen Projektarbeit zu unterschiedlichsten Themen. Derzeit baut die IGS Kaufungen den Schwerpunkt Musik auf, an dem Kinder aller Klassen teilnehmen können.

Ab jedem neuen fünften Jahrgang führt dasselbe Team von Lehrkräften die Schüler von der Klasse 5 bis zur Klasse 10, so dass in einigen Jahren alle Jahrgänge diese Struktur haben werden. In sechs Jahrgangseinheiten arbeiten dann sechs Lehrerteams. Eine Jahrgangseinheit wird von 12 bis 14 Lehrkräften und rund 150 Schülern gebildet. „Die Schüler haben damit feste Bezugspersonen“, sagt Zammert. Jede Jahrgangseinheit arbeitet in einem der sechs Jahrgangsebenen der  Klassenhäuser. Der Prozess, sich zur Teamschule mit dem heutigen offenen Konzept zu wandeln, setzte und setzt die Bereitschaft voraus zu diskutieren, zu überzeugen und alle Beteiligten einzubeziehen. „So etwas lässt sich nicht einfach anordnen“, sagt der Schulleiter.

Zammert besuchte andere Schulen mit ganztägigen Angeboten in Deutschland und Europa, um deren Konzepte kennen zu lernen. Manch anfängliche Skepsis auf Seiten der Lehrkräfte wich mit der Umsetzung des neuen Konzepts der Erkenntnis: Die Teamarbeit bringt auch Erleichterung, sie entlastet und Ressourcen können anders und effizienter genutzt werden. Gute Beziehungen untereinander sowie ein besseres Klima entstehen.

Ein respektvolleres Miteinander

Mit dem Beschluss für den Neubau der Schule konnte die Architektur dem pädagogischen Konzept angepasst werden. Der Neubau der Klassenhäuser ist dreieckig angelegt mit drei Flügeln. Die gesamte Infrastruktur befindet sich auf einer Ebene. „Der Bau folgt der Pädagogik“, fasst Zammert zusammen. Den Teams stehen flexible Möglichkeiten zur Verfügung. Je zwei Klassenräume grenzen aneinander, in ihnen werden Partnerklassen unterrichtet. Jedes Klassenhaus hat Lehrer-Teamräume und Konferenzbereiche sowie zusätzliche Gruppenräume. Die Räume können entsprechend der jeweiligen pädagogischen Notwendigkeit genutzt werden. Die einzelnen Räume stehen sozusagen miteinander in Kommunikation, sie ergeben eine Art Gefüge. Gestaltete Zwischenräume verbinden die Bereiche miteinander.

„Alle sagen, dass es ruhiger geworden ist“, stellt Martina Schlosser fest. Sie ist Mitglied der Schulleitung und unterrichtet derzeit die Jahrgänge 8 und 9. In dem alten fünfstöckigen Gebäude lärmten die Schüler auf den engen Fluren, manchmal kam es zu Konflikten oder Geschubse. In den neuen Klassenhäusern gleichen die Flure eher Räumen. Die Schüler nutzen die Möglichkeit, sich die Räume für die Arbeit selbst zu suchen. Sie können die Klassen verlassen und wählen „wo sie am besten arbeiten können.“ Insgesamt entstand so ein offener Umgang miteinander. Die Transparenz der Räume führte auch zu einem respektvolleren Miteinander, beobachtete Martina Schlosser. Keiner klopft mehr wild gegen Türen und die notwendige Distanz wird ganz natürlich gewahrt.

Die anfängliche Befürchtung, man werde nun ständig beobachtet, wich dem Gefühl von mehr Raum und mehr Platz. Transparenz wirkt entspannend. Die Kollegen und Kolleginnen bekommen mehr voneinander mit, es entwickelt sich eine stärkere Kultur der gemeinsamen Absprachen und der gegenseitigen Unterstützung. Zusammenfassend stellt sie fest: „Durch die vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten und da die Räume alle einander zugewandt sind, entsteht eine wesentlich positivere Arbeitsatmosphäre.“

Natürlich setzt soviel Offenheit klare Regeln und deren Durchsetzung voraus. Notwendig sind klare zeitliche, räumliche und kommunikative Strukturen. So wie die Architektur die Kommunikation fördert, tun dies klare Zeitstrukturen. So steht der Mittwoch im Zeichen des Austausches. Fast jeden zweiten Mittwochnachmittag treffen sich alle Lehrkräfte in den Jahrgangsteams. Die Mittwochnachmittage stehen zur Gremienarbeit der unterschiedlichsten Teams zur Verfügung. Jedes Jahrgangsteam hat einen Teamsprecher, die die Verbindung zur Schulleitung schaffen. Ein Eltern- und ein Schülerbeirat ergänzen die Kommunikationsstruktur. Teamtage, Coaching sowie Fortbildung ermöglichen es, sich stetig weiterzuentwickeln sowie Bedürfnisse und Wünsche einzubringen.

Ein weiteres Ziel der Schule ist die so genannte Rhythmisierung. Die Zeiten für Pausen und Unterricht werden dabei den Biophasen der Schüler angepasst. Auf dem Weg dorthin wird momentan über einen zeitlichen Rahmen diskutiert, der mehr Ruhe in den  Lern- und Arbeitsphasen ermöglicht und eine Annäherung an den Biorhythmus der Lernenden bedeutet. Solche Veränderungsprozesse brauchen Kommunikation. Sie werden in der Gesamtkonferenz besprochen, in den Teams diskutiert, in Konferenzen der Teamsprecher und des Schulleiters geändert, angepasst und geklärt. Eltern und Schüler dürfen mitreden. Auf diese Art entsteht ein mehrheitsfähiges Konzept, an dem alle beteiligt sind. Teamarbeit eben.

Noch immer wird gebaut

Eine ganz andere Art der Teamarbeit findet gerade in der Halle ganz in der Nähe der Büros der Schulverwaltung statt. Sieben Jugendliche spielen gemeinsam Tischtennis und rennen um die Platte herum, um den Ball auf derselben zu halten. Sie lachen und trotz oder gerade wegen des temporeichen Spiels läuft alles erstaunlich ruhig ab. An einer anderen Ecke sind zwei Jungs in ihr Kickerspiel vertieft. Ein Plakat zählt die Ganztagsangebote im Schuljahr 2011/12 auf. Darunter Altenpflege, Tanzen, Fußball für Jungen sowie Fußball für Mädchen, Voltigieren und Volleyball. Draußen steht ein Fenster offen. Zwei Mädchen arbeiten konzentriert an einer Nähmaschine, eine schaut kurz hoch und lächelt die vorbeigehende Besucherin an. Überhaupt wird hier viel gelächelt. Auch ein Bauarbeiter lächelt unter seinem Helm.

Noch immer prägen Bauzäune und eine Baustelle das Bild der Schule in einigen Bereichen. Gebaut wird ein Zentralgebäude, in dem unter anderem Mensa, Bibliothek und Aula untergebracht sein werden. Es soll das Zentrum des Schulcampus werden. Wie ein Dreieck  wird die 300 Quadratmeter große künftige Bibliothek herausragen, die später von der Schule und der Gemeinde Kaufungen gemeinsam betrieben wird. Die vier Theater-, Tanz- und Musikräume stehen auch Vereinen im Ort zur Verfügung. Auf 200 Quadratmetern können ca. 150 Schüler in der neuen Mensa gleichzeitig Essen bekommen. Statt bisher fünf Stockwerken besteht das Zentralgebäude dann nur noch aus zwei. „Ende 2012 haben wir eine komplett neue Schule“, sagt Schulleiter Erhard Zammert abschließend.

Autorin: Jacqueline Engelke, vitamin be Kommunikation
Fotos: IGS Kaufungen
Datum: 10.01.2012
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