Das Lernkonzept der IGS Kelsterbach
Ein Bericht von Birgitta M. Schulte
Ankunft in Kelsterbach. Unter dem Bahnhofsdach fängt sich ein Geruch wie Kerosin. Die Gemeinde ist eine derjenigen, die dem Flughafen am nächsten liegen – Leid und Freud zugleich. Kelsterbach ist schuldenfrei, Abfindungen und der Verkauf von Land spülte Geld in die Gemeindekasse. Davon profitieren auch die Schulen.
Nicht weit vom Bahnhof: die Integrierte Gesamtschule. Eine neue Mensa, ein attraktiv rot gestrichener Kubus mit riesigen Fensterflächen, drängt sich als erstes in den Blick. Die Gesamtschule, ohne Zaun auf weiträumigem Gelände, strahlt Offenheit und Ruhe aus.
Bestens ausgestattet, in Teilen neu gestaltet, wirkt die 1972 gebaute Gesamtschule einladend wie ein großes Haus. 640 Schülerinnen und Schüler lernen hier. - Sie lernen auf eine besondere Weise: eigenverantwortlich und so weit wie möglich selbstständig.
Die IGS Kelsterbach, eine kooperative Ganztagsschule, hat mit einem Lernkonzept auf die Besonderheit ihrer Schülerschaft reagiert. Am Flughafen und auch bei den großen Logistikunternehmen, die sich in Kelsterbach angesiedelt haben, arbeiten Menschen aus aller Welt. So haben 45 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund und ihre Eltern selten einen akademischen Abschluss.
Lernkonzept
Damit sie beim Lernen so gut wie möglich unterstützt werden, hat das Lernkonzept unterschiedliche Elemente. Element Nummer eins: die Beachtung der unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten. Alle Schülerinnen und Schüler lernen in ihrem eigenen Tempo. „Wir haben den Unterricht nach und nach darauf eingestellt, und es hat sich gelohnt“, sagt Stufenleiterin Ilona Rübsamen. „Alle in der 9.1 zum Beispiel sind auf Realschul- oder Gymnasial-Niveau. Und kein Kind hatte eine solche Empfehlung, als es kam.“
Lernblätter
Das gelingt u.a. durch Wochenplanarbeit. Die IGS Kelsterbach führt weiter, was die Grundschule begonnen hat. Die Kinder erhalten zu Beginn der Woche einen Plan mit zum Teil spezifisch für sie entwickelten Aufgaben aus den verschiedenen Fächern, die sie im Laufe der Tage allein oder mit anderen erledigen. Wann, wo und wie bestimmen sie selbst. Die innere Differenzierung ist auch deshalb notwendig, weil Kinder mit Beeinträchtigungen in die Klassen integriert sind.
Ein weiteres Element sind die „Lernblätter“ in Mathematik. Wenn es im 7. Jahrgang zum Beispiel um die Prozentrechnung geht, dann sind die Lerninhalte aufgelistet und können abgehakt werden. „Ich weiß, was vermehrter und verminderter Grundwert bedeutet und kann ihn berechnen“ steht dann da. Ein Kreuzchen kann bei „Das kann ich gut“ oder „Das muss ich üben“ gemacht werden. Unter der Liste unterschreibt die Schülerin oder der Schüler, nicht ohne anzugeben, was Spaß gemacht hat.
Selbstdiagnosebögen
Und schon seit acht Jahren erhalten sie „Selbstdiagnosebögen“. „Es gibt Schüler“, sagt Ilona Rübsamen, „die können sich nicht gut selbst einschätzen. Je weniger kompetent sie sind, desto eher überschätzen sie sich. Die Kompetenteren dagegen sind oft sehr selbstkritisch. Deshalb geben wir ihnen die Gelegenheit, ihre Leistung selbst zu beurteilen. Erst danach schreibe ich als Lehrerin meine Beurteilung und die Note darunter.“
„Oft ist die Diskrepanz zwischen der Zielvorstellung, etwa dem Realschulabschluss, und dem bisherigen Stand sehr groß“, sagt Ursula Bös. Sie ist als Lehrerin Mitglied in der Steuergruppe, einem Gremium, das sammelt, was einzelnen auffällt, Missstände diskutiert und nach pädagogischen Lösungen sucht. „Die Steuergruppe hat sich gefragt, wie können wir für die Lernenden selbst Transparenz schaffen, und ist auf die ‚Notenübersicht’ gekommen.“
Weg zum Schulabschluss
„Mein Weg zum Schulabschluss“ steht jetzt über einem Tabellenvordruck. Hier trägt man seine Noten, schriftliche und mündliche, hinter dem Kürzel des Fachs ein. „Die Noten 1 und 2 färbe ich grün, die Noten 3 und 4 gelb, die Noten 5 und 6 rot. So sehe ich auf einen Blick, wo ich mich verbessern muss.“
Das gilt für die Kleinen, für die alle Zukunftsperspektiven offen gehalten werden, und es gilt für die Größeren ab Jahrgang 8, wo zum ersten Mal die Frage gestellt wird: welchen Schulabschluss möchtest du denn? Es könnte neben dem Realschulabschluss oder dem Übergang in die gymnasiale Oberstufe auch der zur Fachoberschule oder zum beruflichen Gymnasium sein. Die IGS Kelsterbach koordiniert sich mit den Systemen. Es könnte der Beginn einer Lehre sein oder, falls man keine Lehrstelle gefunden hat, sogar ein gezielt berufsorientierendes Schuljahr nach dem Hauptschulabschluss noch in der IGS.
Notenübersicht
„Durch die Ampelfarben in der Notenübersicht wissen sie genau, wo sie sich anstrengen müssen“, sagt Oliver Harnischfeger, der „Ausbildungscoach“ an der IGS Kelsterbach. „Aber einige ignorieren es doch. Wenn der Runde Tisch getagt hat, ist das vorbei.“ Bei den „Tendenzgesprächen am Runden Tisch“ fallen nämlich schon mal Sätze wie „Du musst endlich anfangen, für dich Verantwortung zu übernehmen!“ Sie kommen nicht aus Elternmund oder von der Klassenlehrerin, sondern vom Personalchef der Fraport AG oder vom Vertreter des Arbeitsamtes und machen daher wirklich Eindruck.
Der Runde Tisch zur Kompetenzfeststellung ist „hochkarätig“ besetzt, denn Oliver Harnischfeger pflegt die Kontakte zu den Firmen im Umkreis. Er ist dabei besonders erfolgreich. Als einer, der in der Wirtschaft gearbeitet hat, spricht er ihre Sprache. Durch seine Grundausbildung als Lehrer weiß er gleichzeitig die Jugendlichen anzusprechen, die er stets individuell berät oder trainiert. Er hat die Zeit dazu, denn in der IGS endet der Schultag nicht um 13.00 Uhr.
Die sehr persönliche Begleitung in der Lebensplanung ist nur ein Baustein in einem verzweigten Konzept der Berufsorientierung. Es hat der IGS Kelsterbach in Hessen den ersten Platz als „Starke Schule“ gebracht und den vierten Platz bundesweit in der Reihe von „Deutschlands besten Schulen, die zur Ausbildungsreife führen“. 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben im Schuljahr 2009/10 eine Lehrstelle gefunden, während außergewöhnliche 50 Prozent die Versetzung in die 11. Klasse erreichten.
Berufsorientierung
Berufsvorbereitung macht das Profil der IGS Kelsterbach aus, die zugleich den Ganztagsbetrieb immer weiter ausgebaut hat. „Je stärker wir uns umstrukturieren, desto mehr Menschen brauchen wir, die nicht Lehrkräfte sind“, sagt Dieter Lentz, Mitglied der Schulleitung, „hier zum Beispiel jemanden, der die Perspektive der einstellenden Betriebe kennt und zudem Schulungserfahrung hat.“ Die Schulleitung hat diese Stelle angeregt und die Stadt Kelsterbach hat die Finanzierung übernommen. Die Gemeinde, obwohl kleinster Schulträger Deutschlands, hat durch die Gewerbesteuer ausreichend Mittel zur Verfügung – Leid und Freud der Flughafennähe.
Ganztagsähnlich hat die IGS Kelsterbach schon 1988 gearbeitet. Dieter Lentz erinnert sich an seinen Anfang an dieser Schule. „Ich kam von Kelkheim, da sind die Kinder laut johlend nach Hause gelaufen, wenn sie keinen Unterricht hatten. Hier saß der Windfang voll. Hier fragt sich ein Kind auch heute noch, was es zuhause machen soll. Der Vater arbeitet Schicht, die Mutter ist oft noch unterwegs.“
Lernzeit
Diese Eltern können ihre Kinder nicht bei den Hausaufgaben unterstützen. Deshalb hat die IGS Kelsterbach die Aufgaben für zuhause weitgehend abgeschafft und stattdessen eine Stillarbeitsphase in der Schule eingerichtet. Die „Lernzeit“ ist sozusagen die Achse des rhythmisierten Tages. Für die Jahrgänge 5 – 7 liegt sie nach dem Mittagessen, für die Jahrgänge 8-10 vor dem Mittagessen. Betreut wird ein Klassenverband dabei von einer Lehrkraft.
Wenn Ursula Bös dazu in den Klassenraum kommt, hängt sie als erstes deutlich sichtbar das Lernzeit-Symbol auf. Ein Kind hat eine Schultüte auf dem Kopf und schaut nur durch Sehschlitze hinaus. Klar, hier arbeite ich für mich allein und sprechen muss ich nicht. Nur manchmal ist auch Partner-Arbeit erlaubt, das symbolisieren die beiden, die zu zweit auf einem Sitzball rollen. Für diesen Fall schaut Ursula Bös, ob es leise ist im großen Karree vor den Klassenräumen, und ob da nicht jemand ist, eine angehende Lehrerin zum Beispiel, die helfen könnte.
Aufgabentafel
Was zu tun ist, steht auf der „Aufgabentafel“ im Klassenraum oder auf dem Aufgabenblatt zum Wochenplan. Die Schülerinnen und Schüler haben es in ihren „Lernplaner“ übertragen, dem Terminplaner für junge Leute, nicht in Leder gebunden, aber doch genauso dick.
Lernzeit und Lernplaner sind zentrale Elemente des Lernkonzepts der IGS Kelsterbach, Mittel der Eigensteuerung und Selbstkontrolle. „Anfangs hatte jedes Kind einen Ordner mit Lernzeit-Materialien“, sagt Schulleiterin Barbara Jühe. „Es war ein Lernprogramm, aus dem Unterricht kamen keine Aufgaben. Das haben wir verändert. Jetzt können die Lehrerinnen und Lehrer Übungen in ihrem Fach ansetzen, sie müssen aber auch entscheiden, wie viel ein Kind in der Lernzeit schaffen kann. Es gibt ja keine Sanktionen, wenn ein Kind zügig gearbeitet hat, auch wenn es nicht fertig wird. Wenn es sehr langsam ist, dann wird im kleinen Kreis beraten, welche Unterstützung es noch bekommen kann.“
Ganz neu ist die Visualisierung der Regeln für die Großen: ein Torbogen über dem „Weg zum Erfolg“ aus römischen Steinen, die ohne Mörtel halten. Es darf allerdings keiner herausgebrochen werden, sonst stürzt der Bogen ein. „Planen und Entscheiden, Strukturieren und Ordnen, Verstehen, Wiederholen, Dokumentieren und Sichern“ sind ebenso wichtig wie „Selber machen“.
Für die Schülerinnen und Schüler des 10. Jahrgangs heißt das auch: zuhause weiter machen. „Sie können nicht erwarten, dass mit einer Dreiviertelstunde Lernzeit alles abgedeckt ist“, sagt Ursula Bös.
Anfangs haben die unterschiedlichen Lehrkräfte die Lernzeit-Regeln unterschiedlich interpretiert, das ist inzwischen angeglichen. „Wir evaluieren und bessern nach“, sagt die Schulleiterin. Heute heißt die Regel: Erst die Aufgaben, dann die Worte aus dem „Vokabelheft Deutsch für alle Fächer“ lernen.
Vokabelheft Deutsch
Es ist eine Wörtersammlung, die nach und nach, in jeder Klasse unterschiedlich, entsteht. Was ein Ochse ist, was ein Pflug, was Mähen und Dreschen, kann man da zum Beispiel nachlesen. Oder was „Ejakulation“ bedeutet. Das Wort hat der Biologie-Lehrer eintragen lassen. „Deutsch-Vermittlung ist für uns eine Querschnitt-Aufgabe,“ sagt Koordinator Dieter Lentz. „Alle Fächer, besonders auch Mathematik, müssen dazu beitragen.“
Lernplaner
Der Lernplaner ist ein entscheidendes Instrument für die Ganztagsschule. Dort gibt es in jeder Woche einen ausgesparten Platz, wo die Lehrer Bemerkungen für die Eltern hinterlassen oder die Eltern den Lehrern Nachrichten schreiben können. Jeden Montag wird – nicht in allen Klassen – kontrolliert.
Für manche hat der Lernplaner aber vor allem Bedeutung als Strukturierungshilfe. Dies weiß Harold auch noch in der zehnten Klasse zu schätzen: „Ich schreib da hinein, was ich einpacken muss. Sonst vergess ich die Hälfte.“
Der Lernplaner ist eine Hilfe zur Organisation vor allem für die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern.
Sie sind es auch, die mehrheitlich das „Lernbüro“ frequentieren. In diesem mit Computern ausgestatteten Raum stehen zwei feste Ansprechpartnerinnen bereit, Nicht-Lehrerinnen, die eine eher in Naturwissenschaften, die andere eher in Geisteswissenschaften sattelfest.
Sie unterstützen eine Computerrecherche oder interpretieren Aufgabenstellungen. Sie sind die ersten Zuhörerinnen von Power-Point-Präsentationen oder Lern-Vorträgen.
„Die, die erkannt haben, dass es hilft, kommen immer wieder“, sagt Ute Ritz-Müller. „Die ersten, die ich betreut habe, sind heute in der Dreizehn, sie kommen noch immer, jetzt von der Oberstufenschule herüber.“
Lernbüro
Mit Lernbüro und Lernplaner, mit Lernzeit und Vokabelheft, mit Selbstdiagnosebögen und Notenübersicht, mit Innerer Differenzierung und Berufsorientierung hat das Lernkonzept der IGS Kelsterbach viele Elemente, die die Selbstkontrolle und die Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler stärken. Sie sind als Personen ernst genommen. In einer schönen Umgebung, die zudem viel Raum gibt, dürfen sie sich „selbstregulieren“ – fast wie in Reggio, der norditalienischen Gemeinde, die der Pädagogik Loris Malaguzzis vertraute. Sie wurde mit den Prinzipien „Ästhetik“ und „Persönlichkeitsstärkung“ in Europa berühmt.
„Gute Bildung ist machbar und bei uns kann man sehen, wie viel das kostet“, sagt Schulleiterin Barbara Jühe. „Wie bei einem Schulversuch.“ Die Schule hat rund 41 volle Stellen für Lehrkräfte und bekommt 110 000,- Euro für die Betreuung vom Schulträger. Das ist zwar die Flughafen-Gemeinde Kelsterbach, aber eine Ausnahme muss sie ja nicht bleiben.
Autorin: Birgitta M. Schule
Fotos: IGS Kelsterbach
Datum: 07.01.2012
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