Das selbstständige Lernen fördern

TeaserbildKinder und Jugendliche bei ihrem Lern- und Entwicklungsprozess zu begleiten ist eine der Kernaufgaben von Lehrerinnen und Lehrern – und angesichts zunehmend heterogener Lerngruppen zugleich eine der großen Herausforderungen. Bieten Ganztagsschulen bessere Voraussetzungen, diese Herausforderung zu meistern? Durch das Mehr an Zeit, das die Schülerinnen und Schüler in der Ganztagsschule verbringen, kann es gelingen, Kinder und Jugendliche ganzheitlich zu fördern und zu fordern. Doch alleine mit der Ausdehnung der Schulzeit in den Nachmittag hinein ist es nicht getan. Wichtig ist vor allem, dass die neue Lehr- und Lernkultur konzeptionell stimmig ist und vom Kollegium mitgetragen wird.

Ein Bericht von Christine Küch

Der Qualitätsbereich „Schulkultur, Lern- und Aufgabenkultur“ betont die Notwendigkeit, das selbstständige Lernen der Schülerinnen und Schüler gezielt zu fördern und sie individueller beim Lernen zu unterstützen, sei es durch eine fachlich kompetente Hausaufgabenbetreuung oder durch die Einführung von Lernzeiten. In Ganztagsschulen im Profil 3 sind Lern- und Übungszeiten fest im Stundenplan integriert und ersetzen weitgehend die klassischen Hausaufgaben. Aber auch an Schulen mit Ganztagsangeboten ist es möglich, erfolgreich Lern- und Übungszeiten zu etablieren, wie das folgende Schulbeispiel zeigt.

Aus der Praxis

Der Wunsch, der heterogenen Schülerschaft durch eine neue Lehr- und Lernkulturgerecht zu werden, war der Motor, der die Schulleitung und das Kollegium der Bertha-von-Suttner-Schule in Mörfelden-Walldorf antrieb, über nunmehr fast zehn Jahre hinweg in der Schulentwicklung einen Schwerpunkt in diesem Bereich zu setzen.

Die Bertha-von-Suttner-Schule ist eine Integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe im Ganztagsprofil 1. Sie ist Lern- und Lebensraum von über 1500 Schülerinnen und Schülern. Im Schuljahr 2007/08 begann ein Schulteam, bestehend aus Mitgliedern der Schulleitung, Lehrkräften und zum Teil auch Eltern, an verschiedenen Schulen, die für ihr Lernkonzept ausgezeichnet worden waren, zu hospitieren und sich inspirieren zu lassen. Besuche an der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, der Montessori-Schule in Hofheim, der Max-Brauer-Schule in Hamburg, dem Institut Beatenberg in der Schweiz sowie der Profilschule Ascheberg fanden statt.

Das SegeL-Konzept der Bertha-von-Suttner-Schule

Auf der Basis der über einige Schuljahre hinweg gesammelten vielfältigen Beobachtungen entwickelte ein Team von Lehrkräften, dem die Schulleitung beratend zur Seite stand, ein Modell des selbstgesteuerten Lernens (SegeL-Unterricht) für die Bertha-von-Suttner-Schule. In enger Verzahnung mit dem Fachunterricht in Deutsch, Englisch und Mathematik wurden die SegeL-Stunden konzipiert. Die drei Hauptfächer integrieren jeweils zwei Stunden pro Woche in den SegeL-Unterricht, so dass drei Doppelstundenblöcke zur Verfügung stehen.

Verschiedene Vorarbeiten waren nötig, um das SegeL-Konzept zu etablieren. Fachteams aus Mathematik-, Englisch- und Deutschlehrkräften erstellten das Arbeitsmaterial für den SegeL-Unterricht, bestehend aus Pflichtaufgaben zu den verschiedenen Unterrichtseinheiten, die von allen Lernenden bearbeitet werden sollen, weiteren Wahlaufgaben sowie Expertenaufgaben für die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler. Weiterhin wurden Checklisten erarbeitet, die zur Orientierung innerhalb eines Unterrichtsthemas dienen. Schließlich wurde ein Wochenplaner konzipiert, mit dem die Schülerinnen und Schüler ihren Lernprozess dokumentieren.

Im Schuljahr 2013/14 wurde das neue Lernzeitkonzept erstmals im Jahrgang 5 mit einer Doppelsteckung in den SegeL-Stunden erprobt. Mittlerweile ist das SegeLn in den Klassenstufen 5 bis 7 fest im Stundenplan verankert und wächst gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern in die höheren Jahrgänge.

Zu Beginn jedes neuen Schuljahres findet eine Einführungswoche statt, in der die neuen Fünftklässler intensiv auf die Arbeitsweise in den SegeL-Stunden vorbereitet werden. Sie lernen die zeitliche Rhythmisierung und den Umgang mit den ihnen zur Verfügung stehenden Materialien, den Checklisten und dem Wochenplaner kennen.  

„Unser neues Lernkonzept ermöglicht unseren Schülerinnen und Schülern bildlich zu „segeln“ und auch Kurs auf eine „Insel“ zu nehmen. Das selbstgesteuerte Lernen verändert Schule – auch unsere bertha – an sich. Die Lehrkräfte werden peu à peu zu Lerncoaches. Im Mittelpunkt steht die Begleitung der einzelnen Schülerin und des einzelnen Schülers,“ erklärt Ute Zeller, Schulleiterin der Bertha-von-Suttner-Schule.

Ablauf einer SegeL-Stunde

Wichtig war es, die Lernzeiten so zu strukturieren, dass es, was den zeitlichen und organisatorischen Ablauf betrifft, Routinen gibt, die den Lernenden eine Orientierung geben. Während des 90minütigen SegeL-Unterrichts hilft die Phasenuhr, die auf dem Smartboard im Klassenraum aufgerufen wird, bei der Zeiteinteilung.

Jede SegeL-Stunde beginnt mit einer fünfminütigen Organisationsphase, in der die Lernenden sich alle Materialien bereit legen, die sie in der darauffolgenden 20minütigen Einzelarbeitsphase benötigen. Nach dieser Arbeitsphase gibt es eine Feedbackphase. Dann haben die Lernenden erneut fünf Minuten Zeit, um sich auf die nächste Arbeitsphase vorzubereiten. In dieser zweiten Arbeitsphase können die Schülerinnen und Schüler alternativ zu einer erneuten Einzelarbeit auch Aufgaben in Partner oder Gruppenarbeit lösen. Die darauffolgende Feedbackphase ist optional, das heißt, die Lehrkraft entscheidet nach Bedarf, ob eine Reflexion notwendig ist. Es folgen eine weitere Organisationsphase und eine 20minütige Arbeitsphase. Der Unterricht wird mit einer abschließenden Aufräumphase beendet.

Die letzte SegeL-Stunde der Woche dient zum einen der Reflexion der vergangenen SegeL-Woche. Im Wochenplaner sollen die Schülerinnen und Schüler sich selbst einschätzen und ihre Wochenleistung bewerten. In regelmäßigen Abständen erhalten die Lernenden von den Lehrkräften ein Feedback, ob die Selbsteinschätzung mit der Wahrnehmung der Lehrkraft übereinstimmt. Zum anderen erfolgt am Ende der Woche die Planung, welche Aufgaben in der kommenden SegeL-Woche bearbeitet werden sollen.

Der „heimliche“ Lehrplan

Nach nunmehr drei Jahren der Erprobung zeichnet sich ab, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur fachlich von den Lernzeiten profitieren, sondern durch die klare Strukturierung des SegeL-Unterrichts auch große Fortschritte hinsichtlich der Planungs-und Reflexionsfähigkeit machen. Die Hinführung zum selbsttätigen Lernen wirkt sich sowohl in einem größeren Verantwortungsbewusstsein für den eigenen Lernprozess als auch in der Bereitschaft, sich innerhalb des Klassenverbandes stärker gegenseitig zu unterstützen, positiv aus.

„Regelmäßige Lernentwicklungsgespräche nehmen die gezielte Förderung und Weiterentwicklung der Schülerinnen und Schüler in den Blick. In einer Pilotphase ermöglichen wir unseren Schülerinnen und Schülern in einem mehrwöchigen Zeitraum ihren Termin für die Klassenarbeit selbst zu benennen. Wir möchten, dass sich die Schülerinnen und Schüler als „bereit“ empfinden. So wird tatsächlich die Möglichkeit eröffnet, zeigen zu können, welchen Leistungsstand, welche Kompetenzstufe man erreicht hat“, erklärt Schulleiterin Ute Zeller. Und die Ergebnisse der jährlichen Evaluation des SegeL-Konzepts machen dem Kollegium Mut, den eingeschlagenen Weg hin zu einer individualisierten Lehr- und Lernkultur weiter zu beschreiten.

Autorin: Christine Küch

Aus: „Ganztagsschule gestalten - Ideen entwickeln für die Schule von morgen (Sekundarstufe)“ - Eine Handreichung für zukünftige Lehrerinnen und Lehrer an weiterführenden Schulen, Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen (Hrsg.), Dezember 2016


Datum: 05.09.2016
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