Draußenunterricht, Draußenbetreuung, Draußenschule in Corona-Zeiten praktizieren

Willi Juch ist pensionerter Lehrer und Initiator der ersten hessischen Jugendfarmen. Seinen Blick auf Draußenunterricht, der als bewußte Ergänzung zur gegenwärtigen Digitalisierung von Unterricht und Schule verstanden werden kann, teilt er im folgenden Text mit, den wir gerne an dieser Stelle veröffentlichen. Willi Juch steht für Fragen, Anregungen und Austausch zur Verfügung.

Draußenunterricht, Draußenbetreuung, Draußenschule in Corona-Zeiten praktizieren und weiterentwickeln

Seit Beginn des Schuljahres 20/21 stehen an der Waldschule Tempelsee, Grundschule in Offenbach, montags von der 2. bis zur 4. Stunde drei „SUProstunden“ (Sachunterrichtsprojektstunden) zur Verfügung. Eine Lehrerin oder ein Lehrer gestaltet Projekte, Ausflüge und Aktionen, die mit den Kollegeninnen dann in Doppelbesetzung durchgeführt werden können. Es lassen sich in Absprache mit den Klassen- und Fachlehrerinnen und Fachlehrer zusammen Projekte für den Draußenunterricht entwickeln, die den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, im Klassenverband außerhalb des Klassenraumes zu lernen. Dadurch wird auch der Unterricht im Klassenraum und in allen Fächern gefördert. Dies kann an geeigneten Plätzen in der Schulumgebung, im Stadtteil, auf Freiflächen, in der freien Landschaft, Wiese, Feld, Wald etc. stattfinden.

Gerade jetzt in Corona-Zeiten haben wir erlebt, wie wichtig einerseits die Digitalisierung der Schule für eine Kommunikation Lehrer-Schüler-Eltern im Rahmen des Homeschooling, aber auch für den Unterricht selbst ist. Bundesweit wird die Digitalisierung, die Hardware-Ausstattung auch finanziell unterstützt und ist unumstritten. Am besten hätte jede Schule normaler Größe ihren eigenen IT-Supporter. Dieser Schwerpunkt der Reform der Schule alleine wird den Schülerinnen und Schülern, dem Lernprozess und den Corona-Folgen andererseits nur einseitig gerecht. Schaut man nämlich auf die Kinder seit der Wiederaufnahme des Unterrichts vor bzw. nach den Sommerferien 2020 und unter den Bedingungen des zweiten Teil-Lockdowns, so stellt man ein noch größeres Bedürfnis nach Gemeinschaft, persönlichen Begegnungen, Lernen mit allen Sinnen, Bewegung und konkreten/originalen Erlebnissen bzw. Handeln als vor dem schulischen Lockdown im Frühjahr 2020 fest.

Diese Gemeinschaftserlebnisse können auch und gerade draußen stattfinden – besonders in Corona-Zeiten. Sie haben eine positive Auswirkung auf die Klasse als Gemeinschaft, alle Schüler*innen erleben es und sie können durch Verbalisierung sowie Schreiben von Texten dazu den Unterricht in Deutsch aber auch in Mathe erheblich bereichern. Man bräuchte idealerweise für die vermehrte Entwicklung und Praktizierung von Projekten, die mit konkreten Beobachtungen und handelndem Lernen in der Wirklichkeit verbunden sind - also für den Draußenunterricht - ebenfalls einen Supporter bzw. eine Erlebnis-/Umweltpädagogin. Meine bisherigen Erfahrungen mit dem Draußenunterricht und den SUPro weisen eindeutig in diese Richtung. Wir haben zu Beginn des Schuljahres mit den ersten Klassen einstündige Erkundungen auf dem Schulgelände bzw. in die unmittelbare Schulumgebung (Wald/Biotop) unternommen. Ein großer Schwerpunkt mit allen 1. – 4. Klassen lag auf dem Thema Ernte im Garten an der Schule sowie im Nutzgarten der Schule auf der Kinder- und Jugendfarm in Offenbach (15 Min. zu Fuß von der Schule). Weiterhin wurde ein Wanderweg mit 10 Lernstationen, am Feld, auf der Wiese, am Bach und im Wald begangen sowie erlebt.

Der Mehrwert für den Unterricht

Bei all den Unternehmungen stellte sich heraus, wie wichtig das Thema Verbalisierung des Gesehenen und Erlebten zur Wortschatzerweiterung ist, erleben – begreifen – verstehen mit Hilfe von mündlicher und schriftlicher Sprache (z.B. was sind Blätter, was sind Nadeln oder auch was bedeutet Rascheln im Herbstlaub). In den Klassen wurde dann im SU vieles davon besprochen und gezielt aufgearbeitet (z.B. die Kartoffelernte, Landschaftsformen wie Feld, Wiese, Wald, Bach, die Trockenheit im Wald). In Deutsch können die erlebten Handlungen und die gesehenen Begriffe in Stichwortlisten oder als Mindmap wiederholt werden. Dieses Wortgerüst entwickeln die Schüler weiter zu Texten, die alle verstehen und nachvollziehen, weil sie es gemeinsam live mit allen Sinnen erlebt haben. Durch Entfernungsmessung, Zeit- und etc. kann man dabei auch mathematische Fragestellungen einbringen. Sport ist durch die Bewegung draußen oder Spiele im Freien immer dabei, in Kunst lassen sich auch im Winter bei Sonnenschein draußen Skizzen/Bilder anfertigen oder Land Art praktizieren und auch Musik lässt sich umsetzen, z.B. draußen hören, Rhythmus, tanzen, mit Instrumenten spielen, evtl. mit Abstand singen. Draußenunterricht bereichert also alle Fächer und man kann aus ihnen heraus noch viele Ideen entwickeln, sie draußen umzusetzen. Den Schülerinnen und Schülern tut es gut, da sie in ihrer begrenzten Freizeit auch nur begrenzt raus kommen und sich eher in der medialen Welt tummeln. Kommende Projekte plant die Waldschule für die nächste Zeit und man kann sie abgestimmt auf Ort und Jahreszeit durchführen: Weihnachtswald – Weihnachten mitten im Wald ohne Elektrizität, morgens 1 – 2 Schulstunden; Jahreszeiten im Wechsel an bestimmten Stellen in der Schulumgebung; Winterphänomene im Wald, auf der Wiese, am Bach, Temperaturmessung; Spiel-, Bau-, Kunst- und Musikprojekte draußen/im Wald; beim Laufen durch den Stadtteil, die Landschaft - der Weg ist das Ziel – Beobachtungen verbalisieren und dokumentieren; der Boden, die Kompostierung, Bodenvorbereitung im Garten; Besuch des Waldzoos, eines gestrandeten Zirkus; Wohnhäuser der Klasse besuchen 8natürlich nur von außen), wer wohnt wo (1. Klasse); Ostereier sammeln, Erkundungen im Ort, Besuch von Vereinen, Wirtschaft, Bau, Berufserkundungen, Baudenkmäler, Museen etc. und wo immer möglich in der Natur können ebenfalls in die Überlegungen des Schulumgebungslernens miteinbezogen werden.

Das derzeitige Hauptargument für den Draußenunterricht: Die Corona-Ansteckungsgefahr ist draußen rund zwanzigmal geringer als in geschlossenen Räumen. Es wurde bereits 1904 eine Draußenschule für mit Tuberkulose infizierte Schüler eingerichtet, um diese von anderen, nicht infizierten fernzuhalten. Trotz der winterlichen Kälte wurden sie gesünder. Dies deckt sich auch mit den Untersuchungen von Kindern, die heute einen Waldkindergärten besuchen. In einem Artikel der Zeitung „der Tagesspiegel“ vom 28.09.2020 „Unterricht in Corona-Zeiten“ plädiert der Autor Richard Friebe unter Bezug auf den Didaktikforscher Christoph Mall für einen Mix aus Klassenteilung, Homeschooling und Draußenschule. Wenn Hessen, wie alle anderen Bundesländer bestrebt ist, die schulische Nachmittagsbetreuung bis 17.00 Uhr flächendeckend einzuführen (Pakt für den Nachmittag) und bundesweit gerade als Ziel gesetzt wird, dass Kinder an der Grundschule bis 2029 ein Anrecht auf Nachmittagsbetreuung haben, dann müsste auch im Rahmen des schulischen Ganztages ein Konzept für die Draußenschule entwickelt und praktiziert werden. Und auch langfristig, wenn die Pandemie abklingt, gilt: Der Draußenunterricht sollte angeregt, gefördert und weiterentwickelt werden wie eine Einladung, ihn als Klassen- oder als Fachlehrerinnen und -lehrer wann und wo immer möglich zu praktizieren.

Autor: Willy Juch
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