Gute Praxis aus erster Hand

Bericht über die Landesfachtagung der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen am 13. September 2013

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Ein Bericht von Julia Wittenhagen

Rund 300 Lehrer, Schulleiter, Sozialpädagogen, Vertreter der Schulträger und Schulverwaltung kamen am 13. September zur Landesfachtagung der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen nach Frankfurt, um sich im geräumigen Tagungszentrum am Dominikanerkloster auszutauschen und zu informieren über neue Entwicklungen rund um das Thema Ganztagsschule.

„Unser Nachmittagsangebot kommt sehr gut an, aber das Geld reicht nicht. Auch über den Umgang mit Hausaufgaben und Inklusion hoffe ich hier mehr zu erfahren“, schilderte eine Besucherin ihre Erwartung. „Für mich ist das Thema, wie man individuelle Förderung den Kollegen vermittelt und welche Standards im Berichtswesen eingehalten werden müssen, wenn man in einem Ganztagsprofil ist“, sagte ein Schulleiter. Thema der diesjährigen Landesfachtagung war: „Veränderte Kindheit, verändertes Lernen – veränderte Schule?“

„Unser Ziel ist die individuelle Förderung der Schüler von der Vorschule bis ans Ende der Schulzeit“, wandte sich Wolf Schwarz aus dem hessischen Kultusministerium zu Beginn an das Publikum. „Die Ganztagsschule ist prädestiniert dazu.“ Von daher hoffe er, dass der Ausbau der Ganztagschulen in größerem Tempo als bisher voranschreite. Bislang sind 54 Prozent aller hessischen Schulen im Ganztagsprogramm, der Großteil im Profil 1 des Qualitätsrahmens für ganztägig arbeitende Schulen. „Wenn man beachtet, dass wir vor 11 Jahren mit einem Anteil von 10 bis 12 Prozent gestartet sind, ist das ein guter Erfolg“, sagte Schwarz. 70 neue Schulen kamen in diesem Schuljahr hinzu. 17 sind in das Profil 2 gewechselt. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie heute Ihren Blick weiten und viel für Ihre Praxis mitnehmen“, schloss er.

Für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung als „Mutter aller Serviceagenturen“ sprach Maren Wichmann. „Kinder und Jugendliche gehen heute selbstverständlicher mit Medien um. Sie orientieren sich früh, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist und stehen unter großem Druck“, ist ihre Beobachtung. Da 80 Prozent der Eltern sich mittlerweile eine Ganztagsbetreuung wünschen, „werden die Schüler mehr Zeit in der Schule verbringen und Sie schaffen die Bedingungen, auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren“, wandte sie sich an ihre Zuhörer. Viel sei mit Blick auf die Rhythmisierung des Unterrichts, der Einbettung von Spiel und der Kooperation mit externen Partnern schon erreicht, vieles bleibe zu tun. „Die Ganztagsschule hat das Potential, neues Lernen zu ermöglichen“. Und es sehe danach aus, als ob bundesweit weiter in diese Schulform investiert würde. Schließlich habe Bundesbildungsministerin Wanka erst kürzlich „das Recht auf Ganztagsschule“ ins Gespräch gebracht.

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"Keine Motivation ohne Beziehung"  

Der renommierte Professor für Neurobiologie, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer von der Universität Freiburg stimmte mit seinem Hauptvortrag über beziehungsorientierte Pädagogik manchen Zuhörer nachdenklich. Denn mit der medizinischen Sicht auf die Prozesse, die im Gehirn Motivation auslösen, machte er deutlich, wie wichtig für jeden einzelnen Schüler die Resonanz und Spiegelung durch den Lehrer ist. „Keine Motivation ohne Beziehung“ ist seine These. „Ich vergleiche den Beruf des Lehrers gern mit dem eines Arztes. Beide brauchen eine gute Fachkompetenz und Beziehungskompetenz. Ohne letztere fehlt Ihnen der Infusionsschlauch für Ihre Mathematik.“ Zuwendung in Form von Beachtung, Freundlichkeit und Akzeptanz seien eine Bedingung für die Erzeugung der Botenstoffe für Motivation genauso wie Sport und Musik. „Kinder wollen wahrgenommen werden und sind bereit, eine ganze Menge dafür zu tun.“

Die Ganztagsschule biete für beziehungsorientierte Pädagogik besonders gute Chancen wegen des größeren Zeitrahmens für gemeinsame Mahlzeiten, Freizeitaktivitäten, Sport, Musik und soziale Projekte. „Lehrer glauben manchmal, dass sie als Gehirn die Klasse betreten“, sagte er. Tatsache sei, dass sie vor allem mit ihrer Sprache und Körpersprache viel bewirken. Er wählte das Beispiel vom „bösen Max“ in der Klasse, „den alle Pädagogen kennen“ und auf den man schon in Vorausahnung neuer Regelverstöße unfreundlich zugeht. Dieses Auftreten löse zweifellos nur negative Resonanz aus und der „böse Max“ habe gar keine Veranlassung, sein Verhalten zu ändern. Daher appellierte Professor Bauer an alle Lehrer: „Schenken Sie Kindern Vertrauen und nehmen Sie als positives Vorbild ihre Führungsaufgabe wahr.“ Denn Kinder schauten sehr genau, welche Resonanz sie selbst auslösen. Er nutzte dafür das Bild der ersten und zweiten Stimmgabel. „Verstehen sie, was die Kinder und Jugendlichen bewegt.“ Dass sich das lohnt, zeige die neurobiologische Analyse von aggressivem Verhalten: Dies sei nichts anderes als eine andauernde Schmerzreaktion auf soziale Ausgrenzung. „Wir wissen, dass gut integrierte Personen bei akuter Ausgrenzung eine schwächere neurobiologische Reaktion zeigen.“

In der Balance von Verstehen und Führen könnten Pädagogen Kinder zum Lernen, Entdecken der Welt und Entwickeln anregen. „Die Ganztagsschule ist ein ideales Biotop dafür“, schloss er.

Viele Tagungsbesucher lobten seinen Vortrag: „Professor Bauer ruft uns die fundamentalen Dinge unserer Arbeit ins Gedächtnis und sensibilisiert für die eigene Wirkung. Ich würde ihn gerne mal zu uns an die Schule einladen“, sagte Ulrich Mayer von der Kopernikus-Schule in Freigericht. „Man müsste vor diesem Hintergrund den Eltern noch klarer machen, was es bedeutet, wenn sie die Kinder grundsätzlich an den Lehrern zweifeln lassen“, gab eine Grundschullehrerin zu bedenken.

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Zehn Workshops standen zur Auswahl

Nach dem Vortrag boten zehn Workshops die Möglichkeit, Praxistipps und Beispiele für die Ausgestaltung der Ganztagsschule zu sammeln. Jeder Teilnehmer konnte aus dem Angebot zwei aussuchen, die für den eigenen Schulalltag besonders relevant sind. Im Workshop 4 vermittelten Rainer Otte und Manuel Coote von der Valentin-Traudt-Schule in Großalmerode mit viel Enthusiasmus, wie eine von Schließung bedrohte Schule in einem maroden Gebäude im ärmsten hessischen Landkreis sich auf den Weg machte zu einer beliebten Ganztagsschule mit Fokus auf selbstorganisiertem Lernen (SOL). „Besser heißt immer anders“, betitelten sie ihren Weg in 12 parallelen Arbeitsschritten. Punkte wie: Bildung eines Pionierteams, Abstimmung in Konferenzen, Einbeziehung der Eltern, Qualifikation, Methodentraining, gegenseitige Hospitation, Umorganisation des Lehrereinsatzes, Umgestaltung und Verschönerung des „Lebensraums Schule“ machten deutlich, dass mit Herzblut, Überzeugungsarbeit und Zeit radikale Veränderungen möglich sind. „Alle Schüler sollen eigenverantwortlich lernen, optimal gefördert werden, ihre überfachlichen Kompetenzen verbessern und sich mit der Schule identifizieren“, zählte Otte die ehrgeizigen Ziele seiner Schule auf. Neue Lernformen stünden dabei besonders im Fokus, weil „die Mediengesellschaft sie uns genauso abverlangt wie die Explosion des Wissens.“

Er berichtete von den Grundpfeilern des „SOL“: Dazu gehören Wochenpläne für den Lernstoff, das Arbeiten in Stationen, PCs im Klassenzimmer, die Nutzung von Freiarbeitsflächen in Fluren und Bibliotheken und vieles mehr. Vor allem aber, das betonte Otte, entlastende Elemente wie ein Methoden-Reader, in den die Lehrer einer Jahrgangsstufe ihre Unterrichtsmaterialien zur gemeinsamen Nutzung einstellen können. „Respekt“, würdigte Workshopteilnehmer Michael Zeitz vom Gymnasium am Moosbacher Berg in Wiesbaden das in Großalmerode Erreichte. „Ich werde versuchen, einige Elemente für den Schulalltag zu übernehmen.“

Einwände wie: „Wir bekommen immer Probleme mit dem Brandschutz, wenn wir Stühle in die Gänge stellen“, machten deutlich, wie wichtig die Workshops für Inspiration, aber auch praktischen Erfahrungsaustausch sind. Neben individualisierten Lernformen und Heterogenität widmeten sich die Workshops der Einbindung von Freizeitangeboten und Schulverpflegung. „In Frankfurt haben wir so viele Fast Food-Anbieter. Und dann hat auch noch ein Rewe-Markt in unserer Nähe eine heiße Theke eingerichtet.“ Sie suche nach Ideen, „wie wir die Schüler ab der 8. Klasse an den Tisch bekommen“, sagte Ruth Belz von der Brüder Grimm Schule in Frankfurt.

Im Workshop „Spielen, lernen, toben, chillen“ stellte die schulbezogenen Sozialarbeiterin Dr. Elke Reuting vor, wie die Friedrich-Wöhler-Schule in Kassel sich einerseits mit dem Hort verzahnt hat, andererseits aber auch das Spielmobil „Rote Rübe“ als externen Partner mit ins Boot geholt hat, um den Kindern nachmittags ein abwechslungsreiches und bedürfnisgerechtes Angebot zu bieten. „Ich melde mich am Telefon mit ‚Ganztag‘“, erzählte Dr. Elke Reuting, um die Geschlossenheit des Nachmittagsteams an ihrer Schule zu verdeutlichen.

„Unser Ziel ist es, im Zuge der Ganztagsentwicklung Freiräume zu erhalten für das, was Kinder wirklich tun möchten“, erklärte Susanne Enders von der „Roten Rübe“. „Wir haben vielleicht manches Mal eine andere Herangehensweise als die Schule, was den Umgang mit Wagnis und Abenteuer angeht.“ Dass ein freier Träger überhaupt an die Schule kommt, sei in ihrem Fall auch aus der Not geboren gewesen. „Früher, als wir in den Stadtteilen unterwegs waren, kamen 80 Kinder. Heute sind es vielleicht 10, weil alle anderen in der Schulbetreuung gebunden sind“, sagte sie. Das gleiche würden derzeit viele Vereine erleben. Insofern stünden die Zeichen für Kooperationen von Anbietern außerschulischer Freizeitangeboten mit den Schulen nicht schlecht.

Was die Schulleiterin einer Grundschule zum Abschluss, sagte, entsprach der Haltung, in der viele ihrer Kollegen die Landesfachtagung am späten Nachmittag verließen: „Ich habe viele Anregungen bekommen. Nun muss ich schauen, wie ich sie auf das eigene Umfeld übertrage.“

Autorin: Julia Wittenhagen
Fotos: Team der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Hessen
Datum: 25.09.2013
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