Wir gestalten unser Zusammenleben – die Gesellschaft Zusammenarbeit von Schule und Partnern der Jugendbildung in Viernheim an der Bergstraße

Ein Bericht von Birgitta M. Schulte

"Muss sich ein Zwölfjähriger sagen: ‚Ich bin entweder Messdiener oder Handballer’?" Torben Kruhmann, Sprecher der Schülervertretung des Kreises Bergstraße, stellt die Frage rhetorisch. So kann, so darf es doch nicht sein.

Wenn die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Schuljahre so viel Lern- und Zeitdruck erzeugt, dann müssen die Wege kürzer werden. Dann müssen eben  Imker-, Modellflugzeug- und Sportverein, Musikschule und Chemieunternehmen an die Schule kommen. Das meint auf der Fachtagung zur Zusammenarbeit von Schule und Jugendbildung im November 2010 in Viernheim Elke Baier, Vorsitzende des Elternbeirats des Kreises Bergstraße. Sie wendet sich mit einer Bitte besonders an die Evangelischen Kirchen: Der Konfirmandenunterricht möge in der Schule abgehalten werden.

Wenn die Kirchen in dieser Form mit ins Boot einstiegen, dann wäre es ein weiterer Schritt vorwärts in Richtung Kooperation. Sie hat in Viernheim schon eine solide Basis. Für die Fachtagung kooperierten die Stadt Viernheim, der Landkreis Bergstraße, das Staatliche Schulamt für den Kreis Bergstraße und den Odenwaldkreis, die Serviceagentur "Ganztägig lernen" Hessen, der Verein Lernmobil, der in der Grundschulbetreuung aktiv ist, die Jugendförderung Viernheim und die Alexander-von-Humboldt-Schule.

Der Anstoß zu diesem Zusammenschluss kam aus der Kommune. Die Stadt Viernheim hat weitgehende Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder übernommen, wie Bürgermeister Matthias Baaß in seinem Einführungsreferat auffächerte. Er würde gern weitere Kommunen anregen, es auch zu tun. Aus seiner Sicht könnte aber noch viel mehr an der Schule stattfinden als bisher: Skatturniere und Volkshochschulkurse, Vereinstreffen und Musikveranstaltungen. "Warum sollen sich in der Schule abends nicht die Nachbarn treffen?" Auch für ihn ist die Frage rhetorisch. Schulen müssen Stadtteilzentren werden, das ist sein Ziel.

Unter dem Namen "Stadtteilbüro" sind sie schon Zentren für die Jugendlichen in Viernheim. Manche schlafen sogar in der Schule. "Wir bauen lieber an jede Schule einen Raum an, damit er Jugendtreff werden kann, als dass wir irgendwohin ein zentrales Gebäude setzen." Darin ist sich Matthias Baaß mit Bernhard Finkbeiner, dem Leiter der kommunalen Jugendförderung, einig.

Denn die Jugendkultur ist in viele Gruppen zersplittert. "Die Jugendlichen wechseln hin und her. Heute wird die Baseballmütze mit dem Schirm nach rechts aufgesetzt, morgen zeigt der Schirm nach links und übermorgen wandert die Mütze in den Müll," beschreibt Bernhard Finkbeiner. Die Kids haben das Individualismusgebot der Neunziger Jahre verstanden. Sie sollen sich selbst kreieren, möglichst stylisch und immer wieder neu. "Diese Jugendlichen können wir nur einzeln ansprechen. Man muss sich möglichst empathisch der Person zuwenden."

Deshalb zogen die Viernheimer Sozialpädagogen dahin, wo die Jugendlichen waren: in die Nähe der Schule. Sie stellten zum Beispiel einen Zirkuswagen auf die Grünfläche neben der Friedrich-Fröbel-Schule. "Zuerst kamen neugierig die Jugendlichen, dann auch die Lehrenden", sagt Bernhard Finkbeiner. An der Grund-, Haupt- und Realschule gibt es viele Jugendliche, die Lernschwierigkeiten haben, die mit Eltern und anderen Erwachsenen nicht gut zurecht kommen, die mangelndes Selbstbewusstsein schon mal mit Aggression kaschieren.

Die Zahl der Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie nimmt zu. Auch die, die nicht still sitzen mögen, ständig in die Klasse rufen oder Gleichaltrige verprügeln, werden mehr. An allen Schulen. "Weder der schulische noch der außerschulische Bereich kommt mit diesen Kindern so klar, dass Bildung gelingt. Neue Ideen sind nötig. Deshalb haben in Viernheim Jugendförderung und Schulen gelernt zusammenzuarbeiten", sagt Bernhard Finkbeiner.

Das begann 1993, als die Alexander-von-Humboldt-Schule, eine kooperative Gesamtschule mit 1200 Schülerinnen und Schülern,  Europa-Schule werden wollte und Ganztagsschule werden musste. "Damals waren die Vereine noch nicht so weit, mit uns zu kooperieren", sagt Schulleiter Wolfgang Geisler. "Die kommunale Jugendförderung aber suchte. Sie wollte dezentralisieren." Heute gibt es auf dem Schulhof der Alexander-von-Humboldt-Schule die Villa Kunterbunt, eine Anlaufstelle ähnlich wie der Zirkuswagen, und gleichzeitig Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen mit festen Büros in der Schule selbst. Sie sind sogar in den Gremien vertreten.

Sie helfen bei Problemen in der Klassengemeinschaft wie bei familiären Schwierigkeiten von einzelnen. Sie helfen bei Berufswahl und Ausbildungsplanung. Sie betreuen die Mittagspause durch ein Ausbildungsprojekt "Cafeteria und Mensa". Sie sind mit im Unterricht, wenn es um Suchtprävention oder Sexualerziehung geht. Sie vermitteln Methodenlernen. Sie gestalten Ferienzeit.

In dieser Pilotschule ist die Zusammenarbeit am weitesten entwickelt. Aber alle Schulen in Viernheim haben ein ganztägiges Angebot. Träger ist seit dem Jahr 2000 die Stadt, obwohl sie nicht Schulträger ist. In der Kommune laufen alle Finanzmittel zusammen, die des Kreises und auch die aus dem Kultusministerium. Die städtischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konzentrieren sich auf die weiterführenden Schulen. Für das Nachmittagsangebot der Grundschulen wurden Vereine und kirchliche Institutionen gewonnen. 

"Für die Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf", sagt Bürgermeister Matthias Baaß gern. Und ist stolz darauf, dass das im "Viernheimer Modell" gelungen ist. Ganz ohne Nebentöne bleibt die konzertierte Aktion aber auch in Viernheim nicht.

"Schulen sehen sich", so Frida Bordon, Leiterin des Staatlichen Schulamts Bergstraße-Odenwald in ihrem Einführungsvortrag, "als ein geschlossenes Gärtlein, in dem Kinder wachsen und gedeihen können." Jede Schule hat zudem ihr eigenes Tempo. Deshalb plädiert Frida Bordon zunächst für das schulische Recht auf Abgeschlossenheit.

Unter welchen Bedingungen aber kann die Kooperation mit außerschulischen Partnern gelingen? Welche Strategien braucht es um Bildung ganzheitlich zu vermitteln? Diese Fragen versuchten die Tagungsteilnehmer in einer Vielzahl von Arbeitsgruppen zu erörtern. Sie kamen aus der Schule oder aus den kooperierenden Vereinen und Einrichtungen und redeten gemeinsam über Jungen- oder Mädchenarbeit oder über das Zusammenspiel zwischen formaler und nichtformaler Pädagogik im Rahmen der Erlebnispädagogik. Die Workshops waren über die ganze Stadt verteilt. Ein kommunaler Bus stand bereit, um die Teilnehmenden von Museum zu Bibliothek oder Technischem Hilfswerk zu transportieren. So wurde die Idee außerschulischer Lernorte erfahrbar.

Thomas Findeisen, Leiter der Schillerschule in Offenbach, sprach in einem Workshop über die Kooperationen einer Ganztagsschule. Für ihn ist es geradezu eine Bedingung des Gelingens, "dass die Schule selbst ihre Ziele definiert und sich auf den Weg macht." Mit Erfahrungen aus einer anderen als der Viernheimer Kommune warnt er: "Nicht, dass das Jugendamt meint, es müsse bestimmen, wo es hingeht!"
 
In der Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendarbeit gibt es Gräben. Stichworte dazu haben verschiedene Arbeitsgruppen zusammengetragen. Da wird mit unterschiedlichen "Professionsbrillen" geschaut, da gibt es verschiedene Bildungsverständnisse, alte Kränkungen, unterschiedliche Belastungssituationen und auch das Thema "Macht". Aber, so wurde in der Abschlussrunde in Viernheim formuliert, wo es Gräben gibt, da gibt es auch Brücken.

Für Frida Bordon, die Leiterin des Staatlichen Schulamts Bergstraße-Odenwald, ist die "verbindliche Verabredung" eine Brücke. "Schauen, was die Schule oder die Jugendförderung oder ein Verein oder ein Elternteil jeweils leisten kann. Kleine Schritte führen zum großen Ziel. Sie sollten nur berechenbar sein für die anderen."

So entstehen "lokale Bildungslandschaften" – Strukturen der Kooperation, abgestimmte Formen der Planung und der Steuerung. "Das hilft gegen die Einzelkämpfer-Mentalität an Schulen", betont Thomas Findeisen. "Und ist in Hessen, anders als in NRW, noch leider völlig unterentwickelt."

Vielleicht entstand das Viernheimer Modell nur aus einem glücklichen Zufall. Der Bürgermeister, inzwischen zum dritten Mal wiedergewählt, ist Sozialpädagoge. Als solcher war er Praktikant bei Bernhard Finkbeiner, der nun schon so lange das Jugendamt leitet. "Die richtigen Leute sind sich im richtigen Moment begegnet", stimmt Matthias Baaß zu. "Aber heute ist vieles nicht mehr anders lösbar. Bildung muss überall kommunale Verantwortung werden. Wir brauchen die Kooperationen, wir brauchen neue Konzepte, neue Organisationsstrukturen." Auf einer Tagung wie dieser können Partner sich finden.

Der Bürgermeister sieht das Bildungssystem in Deutschland in einer fundamentalen Umbruchphase. Benachteiligungen abzubauen, kann nur gemeinschaftlich gelingen. "Man braucht viele, die da mitmachen wollen", sagt Matthias Baaß. "Deswegen müssen wir den Weg im Dialog gehen."

Die "Stadtteilbüros" in den Schulen sind nicht nur ein dezentrales Konzept der kommunalen Jugendförderung. Matthias Baaß verbindet mit ihnen die Vision einer Bürgerkommune. Ihm kommt es darauf an, dass die Menschen vor Ort einbezogen werden - wenn es um die Bildung der Kinder geht, also zu allererst die Eltern.

 

Der Zirkus Baldini gastiert im November 2010 eine Woche lang. In der Zeit wird ein Programm einstudiert. Eltern und Lehrkräfte sind dann neben den Kindern die, die von den Zirkusexperten lernen. Und am Ende gibt es eine Galaveranstaltung. So heißt es in Viernheim: "Manege frei – sei dabei!"

Weitere Informationen:

5./6.11.2010 Fachtagung Bildung.communal zur Entwicklung von Bedingungen und Strategien für das Gelingen von Kooperationen an ganztägig arbeitenden Schulen im Kreis Bergstraße
Veranstaltungsflyer
Veranstaltungsdokumentation
Einführungsreferat (Herr Bürgermeister Baaß)
Gelingungsbedingungen von Kooperation im Ganztag (Herr Findeisen)
Die Kulturstrolche (Frau Riegel)
Pädagogischer Stadtplan (Frau Riegel)
Kooperation Sportverein - Schule (Herr Stoll)
Mädchenarbeit (Frau Dr. Wallner)

Weitere Informationen finden Sie auch unter:
Kreis Bergstraße
Stadt Viernheim - Dokumentation der Fachtagung Bildung.communal

Autorin: Birgitta M. Schule
Fotos: Deutsche Kinder und Jugendstiftung
Datum: 21.07.2011
© www.hessen.ganztaegig-lernen.de