Interview mit dem Bildungswissenschaftler Axel Krommer

Axel Krommer
© privat

Das Interview führte Stephan Lüke, freier Bildungsjournalist
November 2025

„Netzwerk als Speerspitze der Innovation“
Bildungswissenschaftler Axel Krommer ermutigt Lehrkräfte, Veränderungen im Kleinen anzustoßen

Zum Abschluss des fünfjährigen Netzwerkes „Beziehung und Lernen in Digitalität im Ganztag“ faszinierte der Bildungswissenschaftler Axel Krommer mit seinen Anregungen zur Schulentwicklung und zu neuen Prüfungsformaten. Im Interview fasst er seine Gedanken. 

Welche Bedeutung hat ein Netzwerk wie das hessische für Schulentwicklung?

Axel Krommer: Diejenigen, die sich zu einem solchen Netzwerk treffen, stellen so etwas wie die Speerspitze der Innovation an Schulen dar. Hier begegnen sie ähnlich Denkenden und gehen im besten Fall bestärkt, ein Stück weit beseelt, zurück in die eigene Schule, um dort, gefüttert mit neuen Ideen Veränderungen anzustoßen. Ich finde, die Bleistiftmetapher beschreibt die Wirkung des Netzwerkes gut. Netzwerke spitzen den Bleistift an, verstärken innovative Effekte, ermöglichen, noch gezielter zu wirken und vielleicht so auch die „Radierer“, die gerne alles beim Alten lassen und Neuerungen rückgängig machen möchten, mitzunehmen. 

Wie kann es dieser Speerspitze gelingen, Veränderungen konkret anzustoßen?

Krommer: Zunächst einmal sollten sie authentisch sein, ein Set an Werten und Normen vertreten und sich realistische Ziele setzen. Einen kompletten Dampfer in einem Schwung zu wenden oder eine starke Kursänderung bewirken zu wollen, könnte alle überfordern. Es bedarf Zeit und Überzeugungskraft, andere mitzunehmen. Am besten gelingt das durch mein Vorleben. Also schlage ich vor, im „Kleinen“, beispielsweise im eigenen Unterricht zu beginnen und andere aus dem Kollegium daran teilhaben zu lassen. Nicht unterschätzen sollte man dabei die Wirkung der Schülerinnen und Schüler. Wenn Lernende spüren, dass sich etwas verändert, dass sie beispielsweise nicht mehr allein für die Noten lernen, sondern, um eigene Kompetenzen zu entwickeln und zeigen zu können, dann werden sie eine Form subtilen Drucks aufbauen. Sie werden andere Lehrkräfte fragen, warum sie beispielsweise zu Beginn von Prüfungen nicht mit dem Nachbarn reden dürfen.

Womit wir bei der Art und Weise des Lernens in deutschen Klassenzimmern wären. Was und warum muss sich daran etwas ändern?

Krommer: Einfach könnte man antworten, weil sich die Zeiten, die Gesellschaft und die Anforderungen verändert haben. Es gibt bereits etliche Schulen, die u.a. viel stärker als früher auf selbstorganisiertes Lernen setzen. Ein Lernen, das sich nach Kompetenzen ausrichtet und dazu beiträgt, individuelle Stärken zu entdecken und zu fördern. Und ein Lernen, das weggeht von der Haltung, dass alle im Gleichschritt agieren und am Tag X Wissen Y nachweisen können sollen. Was die Kompetenzen anbetrifft, möchte ich ein Bild skizzieren: Ob jemand die Kompetenz besitzt, einen Kuchen zu backen, findet man nicht dadurch heraus, dass man ihn handschriftlich unter Zeitdruck ein auswendig gelerntes Rezept aufschreiben lässt, sondern dadurch, dass man ihn einen Kuchen backen lässt.

Sie sprechen die Prüfungskultur an. Warum passt die bisherige nicht?

Krommer: Unsere buchkulturelle Prüfungskultur funktioniert nicht mehr. Wir bringen Lernende immer wieder in diese Situation, in einem „abgeschlossenen“ Raum für sich zu lernen und in einer in jeder Beziehung vorgegebenen Struktur (Tag, Länge der Zeit für die Klausur, feste Anzahl von Klausuren etc.) ihr Leistungsvermögen nachzuweisen. Mit Individualität und Kompetenzerwerb hat das beileibe nichts zu tun. Vielmehr ist es ein taktisches Lernen, um eine gute Note zu bekommen. Wir leben im Zeitalter der Digitalität und deshalb benötigen wir „Prüfungen“ im Setting der Digitalität. Dazu gehört auch der Austausch untereinander. Die Gesellschaft und schon gar nicht die Arbeitgeber warten nicht auf Einzelkämpfer, sondern auf Teamplayer. Ein gutes Team besteht immer aus Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Prüfungen derzeitigen Formats gehören abgeschafft.

Es ist zu befürchten, dass wir darauf noch lange warten müssen. Was empfehlen sie heutigen Lehrkräften im Umgang mit Prüfungen?

Krommer: Ich wünsche ihnen die Bereitschaft, mutiger und kreativer zu sein. Viele setzen bereits die Erkenntnis um, dass alles was juristisch nicht verboten ist, erlaubt ist. Unsere Gefängnisse sind ja nicht gerade voll mit Lehrkräften, die irgendwelche Vorgaben missachtet haben. Die Länge von Klassenarbeiten ist nicht vorgeschrieben. Warum soll ich also den Lernenden nicht ermöglichen, in kleinen Tests und praktischen Prüfungen ihre Kompetenzen zu offenbaren. Das sollte die Marschrichtung sein. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Lehrkräfte arbeiten über viele Monate mit ihren Schülerinnen und Schülern. Sie wissen, was sie können, weil sie fortlaufend Kompetenzen erfassen. Dafür bedarf es eigentlich keiner zusätzlichen Prüfungen im traditionellen Sinne mehr.

Doch am Ende müssen sie das als Note aufs Zeugnis schreiben…

Krommer: Aus diesem Dilemma werden Lehrkräfte leider vorerst nicht herauskommen. Aber sie können die Haltung verändern und Noten möglichst wenig Gewicht geben.

Da werden sich Bildungsministerinnen und -minister, aber auch viele Eltern, die Noten befürworten, querstellen. Wie gewinnen wir diese?

Krommer: Richtig. Ich ignoriere nicht, dass auch Schülerinnen und Schüler Noten für richtig halten – zumindest solange sie gute erhalten. Die Ministerien benötigen gute pädagogische Ideen. Ihre Entscheidungen orientieren sich auch am gesellschaftlichen Bild. Ein Netzwerk wie dieses in Hessen leistet einen kleinen Beitrag zur Veränderung dieses Bildes, eines, das darstellt, wie Schule funktioniert. Das Netzwerk ist ein kleiner Teil einer Bewegung, damit sich etwas verändert an unseren Schulen. Und zwar in erster Linie an der Haltung gegenüber Schule. Das erfordert langen Atem und ist ein lange andauernder Prozess. Ich vergleiche es gerne mit dem Rauchverbot. Wir wussten schon lange, dass es „blöd“ und schädlich ist zu rauchen. Aber es gab eine gesellschaftliche Entwicklung und heute ist ein Rauchverbot in öffentlichen Räumen wie selbstverständlich verboten. Und oft hört man: „Weißt Du noch damals als Rauchen noch erlaubt war?“ Ich hoffe, im Bildungs- und Schulwesen wird es ähnlich laufen und man wird in einigen Jahren Fragen wie „Weißt Du noch, als man im Abitur offline war und per Hand schreiben musste?“ stellen.

Axel Krommer Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Gründungsmitglied des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur.

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Stephan Lüke
Der Bildungsjournalist
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